Sie sind hier: StartseiteArchiv > News 2004/2005 > 20041020 - Ruth Steuerwald

Bericht von Ruth Steuerwald

20.10.04 Endlich hab ich mir mal die Zeit genommen diesen Bericht zu schreiben.

Also… Wie fang ich an… Am besten mit dem Anfang.

Über die ersten Wochen hab ich ja schon berichtet (das ist bei uns leider nicht angekommen), über meinen „Kulturschock“ und das Gefühl, durch einen Film zu laufen – mittlerweile hat sich das gelegt.

Rebecca hat mir, obwohl wir nur eine Woche zusammen hier verbracht haben, sehr geholfen, ich habe ihre Freunde kennen gelernt – zu einem Großteil hab ich noch Kontakt -, sie hat mir den Einstieg in den Alltag hier extrem erleichtert, angefangen vom Busfahren (immer die Hand rausstrecken, sonst fährt er vorbei ;) ), über die Essgewohnheiten bis hin zur Arbeit.

Nachdem sie dann auf Reisen gegangen ist, habe ich jeweils eine Woche in jeder Einrichtung von COMVIVA verbracht, was im Nachhinein sehr gut war – vorher war ich schon voller Tatendrang, wollte in der 3. Woche schon mit den Kids zum Zahnarzt… Aber so habe ich die Arbeit und die Menschen in den vier Häusern kennen lernen können, mich akklimatisieren können…

Die erste Woche habe ich in der Bäckerei verbracht, wurde offiziell zur „besten Bäckerin des Planeten“ gekürt, und habe einen ersten Einblick in die Arbeit im Klassenzimmer und vor allem die Schwierigkeiten derselben bekommen: Fehlende Motivation, unterschiedliches Niveau (Kids, die noch nicht mal ein A schreiben können, neben anderen, die fließend lesen können); und da in der Bäckerei die Älteren unterrichtet werden, sprich Jugendliche zwischen 13 und 16, ist es teilweise noch schwieriger.

In der nächsten Woche hab ich die „Creche Sol Poente“ kennen gelernt, die Krippe, die erst seit kurzem zum Projekt gehört. Dort verbringen 100 Kinder zwischen 3 Monaten und 7 Jahren den Tag. Natürlich war die Arbeit mit den Kleinen sehr schön, allerdings gibt es auch dort schon einige Probleme, vor allem fand ich den Ton etwas rau, es wird viel geschrien dort. Allerdings ist der Platz zum Spielen und Rennen dort auch sehr begrenzt, und es gibt jeweils nur 1 Erzieherin für eine Gruppe von 25 Kindern. Und auch diese Kinder kommen aus sehr schwierigen Verhältnissen, kennen oft von zu Hause nichts anderes als Gewalt; das erklärt wohl, warum zumindest die Älteren oft schon aggressiv sind. Trotzdem konnte ich mich mit dem Ton der Erzieher oft nicht identifizieren, ich bin einfach nicht der Meinung, dass man 2-jaehrige beim Essen anblöffen sollte, sie sollen die Hände unter dem Tisch lassen und grade sitzen, da sie das meiner Meinung nach nicht verstehen.

Es gab aber auch durchaus Positives in dieser Woche, z.B. fand ich sehr gut, dass die Mütter erstens nach Arbeit suchen müssen, um ihre Kinder in die Creche geben zu können, und zweitens dort mit eingebunden werden, etwa zum Waschen oder Aufräumen. Außerdem habe ich dort eine Praktikantin von der FAFICA kennen gelernt, die mir eine wichtige Freundin geworden ist.

Die nächste Station war das „Casa da Rua“, was ich extrem interessant fand, da ich dort die Realität, die Alternative für viele Comunidadekinder, kennen lernen konnte. Mir hat besonders gefallen, wie viel dort einfach über Herzlichkeit und Freundschaft läuft, wie eng die Beziehung zwischen den Mitarbeiterinnen und den Kids ist, und mittlerweile hab ich mich dort schon richtig eingliedern können, hab schon Freundschaften mit ihnen geknüpft, sie in mein Herz geschlossen.

Die letzte „Kennenlernwoche“ war ich dann in der Comunidade und habe dort hauptsächlich in der Alphabetisierungsklasse geholfen; dort hat sich bestätigt, was ich schon in der Bäckerei gemerkt habe: Diese Erziehungs-/Bildungsarbeit ist der weitaus schwierigste Teil der Arbeit mit den Kids, da sie aus einer Welt kommen, in der ganz andere Werte zählen. Ich habe außerdem ein bisschen im Garten und bei den Ziegen mit reingeschnuppert, beim Theater... aber im Klassenzimmer konnte ich ein bisschen anwenden, was ich schon kenne, Mobiles basteln oder mal ein lustiges Gruppenspiel. Und Lucilene, die Lehrerin, ist auch froh einfach noch „ein paar Augen“ mehr dabeizuhaben. Wir haben auch beschlossen, dass ich, solange diese Klasse so besteht (Minimum bis Ende des Jahres), dort mithelfen werde.

Hier jetzt also mein endgültiger Arbeitsplan:

Montag: Morgens im Klassenzimmer der Comunidade, nachmittags in der Bäckerei.

Dienstag: Morgens Fußball mit den Strassenkindern vom Casa da rua, nachmittags frei.

Mittwoch: Morgens Comunidade, nachmittags Arbeit mit den jugendlichen Müttern im Casa da Rua.

Donnerstag: Morgens Comunidade, nachmittags Besuche bei den Familien im Elendsviertel oder Bäckerei.

Freitag: Morgens Comunidade („Großes Aufräumen“), nachmittags Versammlungen, Teambesprechungen u.ä., abends “abordagem a noite”, Rundgang durch die Straßen, um mit den Straßenkindern zu sprechen.

Hier noch einige Geschichten/Erlebnisse, die mir wichtig sind:

Meine ersten Besuche bei den Familien der Kids; diese allgemeine „Mein Kind macht mir so viel Arbeit, wie werd ich’s am besten los“-Einstellung hat mich erschreckt, fast noch mehr als die verarmten Verhältnisse (obwohl ich in den allerärmsten Häusern, glaub ich, noch gar nicht war) – eine der Mütter hatte sich die Telefonnummer vom Jugendgefängnis besorgt, um ihr Kind dort „einliefern“ zu lassen

Ein Mädchen, Larissa, das „vom Teufel besessen“ war. Ich glaube nicht an solche Geschichten, aber unter dieser Beschreibung kann man sich wohl am besten vorstellen, wie das war. Die Familie dieses Mädchens gehört einer Religion an, in der diese Dinge wohl eine sehr große Rolle spielen. – Ein anderes Mädchen wusste davon und hat sich einen Spaß daraus gemacht ihr die Hand auf den Kopf zu legen und irgendwelche Verwünschungen zu murmeln. Larissa hat angefangen zu zittern, zu weinen, Krämpfe bekommen und mehrere Male das Bewusstsein verloren; über zwanzig Minuten hat sie Schmerzen im Körper gespürt, nichts mehr gesehen, irgendwas von „Sangue“, Blut, erzählt, ist immer wieder umgefallen… Sie hat sich immer mehr reingesteigert, bis eine der Educadoras das „Vater unser“ gesprochen hat. Ich will nicht wissen, was dieses Mädchen von klein an zu Hause erlebt hat…

Das Foto von einem toten Strassenjungen und seiner schwangeren Freundin auf der Titelseite der Zeitung, beide am hellichten Tag erschossen, und drumherum die Schaulustigen. Der Junge, Sasa, kam jahrelang ins Casa da Rua, ich persönlich hab ihn nicht gekannt. Ich frage mich nur, wie ich reagieren werde, wenn das erste Mal das Foto von einem der Jungs in der Zeitung erscheint, die ich schon in mein Herz geschlossen hab.

Ramon, einer der Jungs, hat letzte Woche ein Bild von mir gemalt und meinte, wenn er noch lebt, bis ich wieder gehe, malt er noch eins. Prompt entkam er am nächsten Tag nur knapp der Kugel aus einem Polizeirevolver…

Die Wahlen und der ganze Trubel drumherum. Unvorstellbar für uns, dass man einen Bürgermeisterkandidaten feiert wie den Fußballweltmeister, dass das Volk Wochen vorher in der Farbe desjenigen Kandidaten rumläuft, den es grade bevorzugt, dass sogar eine Ehefrau ihren Mann umgebracht haben soll, weil sein und nicht ihr Kandidat gewonnen hat (obwohl man bei solchen Geschichten hier ja nie weiß). Und all das, während sich nichts ändert, egal wer gewonnen hat – außer die Größe der Brieftasche des Siegers.

So, wie du siehst, hab ich mich schon sehr gut eingefunden, auch meine Wochenenden sind gefüllt, morgen zum Beispiel fahr ich mit Ana, bei der ich wohne, nach Recife und verbringe den (Feier)tag am Strand. Übrigens hab ich mit der Sprache keine Probleme mehr, kann mich sehr gut verständigen und verstehe fast alles.

Ach ja, zur Wohnsituation: Ich wohne in der Nähe der Padaria und auch der Comunidade im Haus der Tante von Ana und Vilmar, die beide in der Bäckerei arbeiten, zahle seit diesem Monat 100 Reais Miete. Vor allem mit Ana versteh ich mich sehr gut, es ist hilfreich, jemanden bei Fragen zur Hand zu haben, und sie ist sehr offen.

Einige kleine Fragezeichen gibt es aber schon noch in meinem Kopf: Ich habe irgendwie das Gefühl, dass die Comunidade momentan auf Sparflamme läuft, dass es weniger Angebote gibt, als ich dachte, und jeder kommt und geht, wann er will. Das kann der normale Kulturunterschied sein, den mir auch z.B. Manuel schon beschrieben hat, aber ich habe das Gefühl, dass das auch andere Mitarbeiter so sehen. Wie du vielleicht weißt, laufen aber auch grade viele Bauarbeiten, so dass auch nur ein Teil des Platzes genutzt werden kann. Außerdem ist die Bank im Streik, durch die Angliederung der Creche und die 3 Wochen, die ein Teil der Koordination in Deutschland verbracht hat, gibt es viel Bürokram… Alles in allem fehlt mir ein bisschen der Dialog, die Offenheit.

So, mehr weiß ich im Moment nicht zu sagen,,außer noch: Ich bin sehr dankbar für diese meine Erfahrungen, habe dass Gefühl, ruhiger und sinnerfüllter zu sein als zu Hause, bin offen für alles und glücklich.

Damit beende ich meinen ersten Bericht aus Caruaru, Abraços und Sonnenschein,

Ruth

1/4 weiter

© 2006 Max-Slevogt-Gymnasium Landau - Impressum