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Antreten in der Schulturnhalle zur Klärung eines Sachverhalts

05.05.2008 Stasi-Häftling Jörg Kürschner erklärt 160 Landauer Schülern. das Wesen einer Diktatur

Als es sie noch wirklich gab die Mauer und den Schießbefehl und die Verhöre der Anderen da waren sie alle noch gar nicht auf der Welt. 160 junge Frauen und Männer hockten gestern
In der Turnhalle des Max-Slevogt-Gymnasiums und hörten aufmerksam einem Mann zu, der ihnen auf leise Art erklärte, wie Diktaturen auf die Seelen ihrer Bürger wirken:

die schleichende Angst vor dem Ausgeliefertsein an eine nicht fassbare Macht, die allenfalls flüsternd beschworen werden darf.

Erich Mielke als Lord Voldemort der Bösewicht aus Harr Potter -mancher der jungen Leute mag auf diese Weise einen Zugang zu diesem verwunschenen, verschwundenen Land mit den drei Buchstaben gefunden haben. Doch vieles, was Dr. Jörg Kürschner in seinem halbstündigen Vortrag erzählte war zu bizarr als dass die Schüler es mit ihrer Lebenswelt in Einklang bringen konnten. Dass in Kopfstützen eines Autos versteckte Bücher von Robert Havemann und Reiner Kunze die man studieren, den Freunden in Jena mitbringen will zu einer Anklage wegen staatsfeindlicher Hetze und einer Verurteilung zu fünf Jahren und acht Monaten Kerker im Rummelsburger Knast führen kann - heute klingt es wie ein Fantasy -Märchen. Für Bundesbürger  Kürschner ist es 1979 schockierende Realität samt aller Zutaten des Kalten Krieges: Häftlingskleidung,  Einzelzelle und ein Stasi-Vernehmer der listig und beharrlich versucht sich das Vertrauen des Gefangenen zu erschleichen. Zur Klärung eines Sachverhalts, wie der Stasi-Jargon lautete.
Kürschner weiß damals immerhin die einflussreiche Ständige Vertretung seines Landes hinter sich, anders als seine Mithäftlinge aus dem anderen deutschen Staat, die ohne Hoffnung und Perspektive in ihren Verliesen vor sich hindämmern. Doch auch der Wessi kann eindrücklich von den kleinen psychologischen Kniffen berichten, die seine Peiniger anwenden, um ihn kirre zu machen. Der dezente Hinweis auf den Brief der Freundin etwa, der ihm tagelang, nicht ausgehändigt wird - wäre es da nicht sinnvoller zu kooperieren? Es braucht keine brachiale Gewalt, um Willen zu brechen. Ein paar Rezepte aus dem Zettelkasten von Doktor Freud genügen vollauf.

Weil aber auch das Arbeiter- und Bauernparadies ganz ohne Bananen und Bohnenkaffee nicht auskommen mag, öffnen sich für Kürschner nach über zwei Jahren die Gefängnistore kurz vor Weihnachten 1981. 100.000 D-Mark West überweist die Bundesrepublik in die Devisenkasse der DDR und erhält dafür ihren Bürger zurück.

Jörg  Kürschner nimmt sein Leben wieder auf, wird Journalist, arbeitet heute als Parlamentskorrespondent in Berlin. Die stillen Tage im Gefängnis hat er aber nicht vergessen, weshalb er als Vorsitzender des: Fördervereins Berlin-Hohenschönhausen darum bemüht, dass nachfolgende Generationen den berüchtigten Stasi-Knast als Gedenkstätte kennenlernen.

Und er reist durch das Land, um als Zeitzeuge jungen Leuten seine Geschichte, die auch Teil der deutschen Geschichte ist, zu zählen. Eine Botschaft gibt er ihnen mit auf den Weg: Sie sollen sich einmischen, Courage zeigen, Unrecht nicht akzeptieren. Das quittieren die Landauer Schüler mit anhaltendem Applaus. Die Zehntklässer unter ihnen reisen in der kom­menden Woche zu einer Bildungs­fahrt nach Berlin. Ob sie im Trubel der lärmenden Metropole beim Gang durch die Flure und Zellen von Hohenschönhausen die Angst und das Flüstern von früher spüren werden?

 

VOM RHEINPFALZ-REDAKTEUR ROLF GAUWEILER

 

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