Klassenausflug in die Welt der Judengasse
01.06.2006 Deutschunterricht einmal anders: Landauer Schüler tauchen ein in eine versunkene Welt .
Von Rheinpfalz-Mitarbeiter Herbert Dähling.
Das Haus in der Kramstraße 25 mit dem Blick auf das Deutsche Tor und das Löwendenkmal davor wurde für eine lehrreiche Morgenstunde herausgehoben aus seiner verlassenen Alltäglichkeit und gleichsam als Kulisse hinter die Szenerie der „Judengasse" gerückt, mit der die Schriftstellerin Martha Saalfeld eine versunkene Welt für spätere Leser heraufbeschwor. Zu ihnen zählen Schülerinnen und Schüler der Klasse 7a des Max-Slevogt-Gymnasiums, deren Deutschlehrerin Ulrike Müller-Herancourt ihnen das Bild der Judengasse mit dem Besuch in der Kramstraße anschaulich zu machen versucht.
Eine Unterrichtsstunde eigener Art: Mit Besichtigung und Erkundung des Hauses und Lesung von Abschnitten der „Judengasse" schuf sie eine authentische Vorstellungswelt und wurde unterstützt von Kerstin Arnold vom Denkmalschutz und Christine Kohl-Langer vom Stadtarchiv, die mit fachkundigen Beiträgen den Blick auf das bauliche und geschichtliche Umfeld des Saalfeld-Romans richteten.
Die Kramstraße 25 hat zwar nicht unmittelbar mit der Judengasse zu tun, die einen Straßenzug weiter südlich verläuft und heute Theaterstraße heißt - auf damaligen Wunsch ihrer jüdischen Bewohner übrigens. Aber das seit eineinhalb fahren nicht mehr bewohnte oder wie ehedem durch einen Laden belebte Haus kann auch in seinem heutigen Zustand ein Abbild der Baulichkeiten liefern, in denen die Gestalten der „Judengasse" lebten und wirkten.
Das 1763 erbaute Anwesen hatte um 1930/31 der Großvater von Ursula Kiener, geborene Waldmann, gekauft. Sie war mit ihrem Ehemann Hans-Dieter Kiener eigens aus Sindelfingen angereist und öffnete gastfreundlich die Türen. So drängten sich nach Müller-Herancourts Vermutung so viele Menschen wie vielleicht noch nie im Innenhof mit seinem pittoresken, aber stark vom Zahn der Zeit angenagten Laubenumgang: „Nicht zu viele auf einmal auf die Treppe", lautete der Mahnruf. Es war eine Bauform, durch die man einst Licht in die Häuser brachte und die Nutzung des Hofes ermöglichte. Landau verfügt noch über ein halbes Dutzend ähnlicher Anlagen.
Kohl-Langer lenkte die gedanklichen Schritte zurück in die Judengasse zur Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts, in der Martha Saalfelds Roman spielt. Die Judengasse wird erstmals 1319 erwähnt. Sie war kein Ghetto, die Juden lebten hier mit Andersgläubigen zusammen: ein Leben, das sich kaum von dem ihrer christlichen Nachbarn unterschied.
Religion war ihnen Privatsache, sie feierten in Anlehnung an die Protestanten sogar eine Art Konfirmation der Kinder. Als 1923 die ersten sieben Mädchen aus der „Töchterschule" Abitur machten,
waren darunter vier Jüdinnen.
In dem relativ kleinen Haus bot der Erbauer eine für damalige Verhältnisse reiche Ausstattung auf; Bürger hatten gesehen, wie Fürsten lebten und strebten danach, sich ähnlich herauszuheben. Die bevorzugte Lage nahe am Festungswall und dem Deutschen Tor dürfte das Anwesen frühzeitig dem Handel geöffnet haben - auch dies war ja die Welt der Judengasse. So sehr jedoch der Bauherr seinerzeit seine Behausung auch als repräsentativ empfunden haben mag, manchem der Siebtklässler entrang sich nur der Seufzer: „Ach, iss des schief." Sie fanden nur „winzige Türen" vor, kaum begehbare Treppen - „voll ein Architektenfehler" - und durchhängende Balken, die beinahe Angst machten
Die eigentümliche Welt der Judengasse entfaltete trotzdem wieder den ihr eigenen Zauber, als die jungen Leute im Wechsel Textpassagen lasen oder Dialoge zitierten, teilweise im Sprachanklang des Jiddischen, den ihnen die Lehrerin im Unterricht nahe gebracht hatte. Sie schufen damit eine so dichte und dichterische Atmosphäre, dass sich auf allen Mienen gespannte Aufmerksamkeit spiegelte.
Man merkte: Es öffnete sich eine Welt, die die jugendliche Phantasie beherrschte und bewegte, ganz im Gegensatz zum ernüchternden baulichen Zustand des Bauobjekts, für das allerdings nach Angaben der Besitzer doch Hoffnung auf eine der einstigen Würde angemessene Wiedergeburt besteht.